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Beitrag vom 06.04.2008
Ãœebermutter
Tatjana Zilg
Luci Van Org läutet das nächste Kapitel ihrer turbulenten Erfolgsgeschichte mit harten Klängen ein. Als zur "Üebermutter" gereifte Metal-Feldherrin tritt sie an, um mit ihrer nahkampferprobten...
... Unheilsarmee die Revolution der neuen Weiblichkeit auszurufen.
Mitte der Neunziger war sie als Supergirlie Lucilectric nicht zu übersehen und wirbelte mit ihrem Song "Weil ich ein Mäedchen bin" die etwas eingeschlafene Post-NDW-Phase auf. Zwischenzeitlich hat sie die Musik- und Kunstszene mit vielen weiteren ausgefallenen Ideen bereichert. Auch im literarischen Bereich bewies sie ihr Talent. 2006 erschien ihr Buch "Der Tod wohnt nebenan" mit Spukgeschichten, die sich in Berlin zutragen.
Ebenfalls seit 2006 arbeitet sie zusammen mit dem Gitarristen Michael Brettner und dem Autoren Michael Kernbach an einem neuen Bandprojekt. Ihr erstes gemeinsames Album "Unheil!" benötigt die volle Aufmerksamkeit potentieller HörerInnen, um anfänglich nicht missverstanden zu werden. Uniformierte Damen auf dem Cover, starke Slogans in den Refrains und eine Hardcore-Soundgewalt, die an den frühen EBM erinnert, lassen zunächst rätseln, in welche Richtung sich Luci Van Org denn nun entwickelt hat. Dann offenbart sich die theatralische Symbolik von "Üebermutter": Wie in einem Cyberpunk-Setting wird von einer veränderten Weltordnung in naher Zukunft ausgegangen, in der sich Frauen ganz auf die Seite der Macht geschlagen haben und die Welt dominieren.
Luci Van Org erklärt auf "Unheil!" die Mehrdeutigkeit zum alles bestimmenden Stilmittel ihrer Kunst. Mit einer Bildersprache zwischen Bertold Brecht und Rio Reiser, mit Fetisch-Fantasieuniformen und martialischen Heavy-Rhythmen versteht sie ihr neues Bandprojekt als direkte Reaktion auf die Dinge, die gegenwärtig in Deutschland verkehrt laufen. Ein Editorial in "Die Zeit" war der Stein, der alles ins Rollen brachte. Dort wurde behauptet, dass die Emanzipation der Frau nicht nur Vorteile gebracht hätte. Die multitalentierte Künstlerin war wütend über diesen Artikel und wurde sich bewusst, dass erneut Begriffe wie Emanzipation und Patriarchat durch die Medien geistern, von denen sie gehofft hatte, sie seien schon lange ausdiskutiert.
Provozieren und schockieren, um zum Nachdenken anzuregen, die aktuelle Diskussion zu überzeichnen und sie ihrer Mechanismen zu enttarnen: Dieses Potential haben die elf Songs von "Unheil!" mit Garantie. Der Opener "Mäedchen TeilZwo" knüpft direkt an ihren Erfolgshit an und lässt aus dem fröhlichen Pop-Punk-Song einen Heavy Metal-Knaller werden, der ein Thema aufgreift, das nicht oft genug aus der gesellschaftlichen Tabuisierung enthoben werden kann: Sexueller Missbrauch in der Kindheit. Im tiefen Stakkato-Gesang kündigt das Mädchen von einst Rachepläne an. Die Singleauskoppelung "Heim und Herd" rüttelt mit vollem Sound und befehlsartigen Gesang im Stil der "Neuen Deutschen Härte" an althergebrachten Rollenzuschreibungen. "Gebäermaschine" dreht den Spieß um, und zeigt durch eine fiktive Gegenkonstruktion, wie engstirnige Rollenzuschreibungen zu Unterdrückungsmechanismen werden können.
AVIVA-Tipp: Wer nicht hören will, muss fühlen – die brachiale Gewalt der harten E-Gitarren-Riffs, lauten Drums und imposanten Synthesizer-Verstrickungen peitscht die bitterbösen, schwarzhumorigen Textzeilen tief ins Gehör. Und sind sie erst dort gelandet, bleibt einer/m gar nichts anderes übrig, als über die satirischen Spiegel auf Rollenmuster, Klischeebilder und uralte Mythen nachzusinnieren und eigene, möglicherweise festgefahrene Einstellungen zu hinterfragen. Wer zur Abwechslung gerne mal härtere Musik hört oder dieser ohnehin den Vorzug gibt, sich aber wünscht, in diesem Genre mehr intelligente, feminine Stimmen zu finden, wird mit "Unheil!" eine Menge Spaß haben. Denn Luci Van Org gelingt erneut, wofür ihr Name steht: Die Verbindung von einem klug durchdachtem Konzept mit vielen überraschenden Momenten und einer hohen Stilsicherheit, die ihre Musik hörenswert und einprägsam macht.
Ãœebermutter
Unheil!
Label: Roadrunner, VÖ 04.04.2008
Die Band im Web mit Videoserie:
www.uebermutter.net
Die Band auf Myspace:
www.myspace.com/uebermutter